Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern

 

Klaus Zierer
Herder Verlag, Freiburg, 2021

  1. Auflage, 128 Seiten, A5, broschiert

Preis: 12,00 €
ISBN 978-3-451-07228-4

 Die Herausforderung durch Corona – Was sollen wir tun?

Benachteiligte fördern – Schulen zu geschätzten Lernorten machen – sächliche Lernvoraussetzungen optimieren – musische Fächer und Sport stärken – bildungstheoretische Prinzipien, Erziehungsziele und ethische Maximen reflektieren – Bildungsräte einberufen

Allenthalben bemüht man sich, die Corona-Schäden zu beseitigen.

In Betrieben und Unternehmen, in der Gastronomie und im Tourismus lassen sich Verlust und Gewinn an den Bilanzen ablesen und in Zahlen fassen. Durch die harten Fakten von „Heller und Pfennig“ können Erfolg und Misserfolg bestimmt werden.

Auch in der Schulpolitik wird Bilanz gezogen, aber der Schaden der Pandemie lässt sich schwer mit harten Fakten belegen. Wie üblich in Bildungspolitik und Pädagogik gehen daher die Meinungen auseinander.

Aus den Zeugnisnoten lässt sich kein Leistungsrückschritt erkennen. Als Beispiel möge ein Gymnasium aus Nordrhein-Westfalen dienen, an dem die 70 Abiturienten eine Durchschnittsnote von 2,3 erreichten und eine ansehnliche Anzahl der Schüler eine „1 vor dem Komma“ hatte, wie die Schulleitung freudestrahlend verkünden konnte. So gab es sicher vielerorts gute Bilanzen in den Zeugnissen, zumal in den Abschlusszeugnissen – trotz der Pandemie und der damit verbundenen Beeinträchtigungen des üblichen Tages- und Lernablaufs infolge des Distanz- und Wechselunterrichts. Die Zeitungen waren in den Tagen vor den Sommerferien voll von Fotos mit festlich gekleideten und fröhlich blickenden Gruppen von jungen Menschen, die fürs Abschlussbild posierten, als wäre nichts gewesen. Es schien ihnen – nach vielen Entbehrungen auf der Strecke – jedenfalls am Ende wieder gutzugehen.

Sehr gemischt fallen die Reaktionen der Protagonisten aus. Viele Bildungspolitiker in Bund und Land glauben das eineinhalbjährige Hindernisrennen einigermaßen heil überstanden zu haben, obwohl ihre Entscheidungen häufig kritisiert wurden. Manche haben aber auch ernste Selbstzweifel befallen, die in einem Fall – bei der bremischen Bildungssenatorin – sogar zum Rücktritt führten. Aber insgesamt hat sich die Szene in der Beletage der Bildungspolitik erst einmal wieder beruhigt. Es sind Sommerferien, und Schüler wie Lehrer erholen sich. Wenn die zurückliegende Zeit allen Beteiligten viel Stress bereitet hat, dann ist Erholung auch nötig! Sie ist Lehrern und Schülern zu gönnen.

Allerdings muss die unterrichtsfreie Zeit auch für kluge Entscheidungen zur zukünftigen Organisation des Schullebens und für eine umfassende Reflexion über Bildung und Erziehung genutzt werden. Es ist in der Pandemie unabweisbar geworden, dass der Unterricht mit zeitgemäßen, sprich modernen Mitteln und Methoden gestaltet werden muss und dass diese Mittel selbst zum Gegenstand des Unterrichts werden müssen, damit man sich ihrer dem Zweck gemäß bedienen kann. Den Kommunen ist es auferlegt, für passende Ausstattung und Einrichtung ihrer Bildungsanstalten zu sorgen. Die „Hardware“ muss stimmen, damit die Voraussetzungen für Wissenserwerb überhaupt seriös gegeben sind und eine bildungsfreundliche Umgebung vorhanden ist. Das scheint nicht überall gleichermaßen gelungen zu sein. Es gibt überraschend viele säumige Kommunen. Auch jetzt noch ist strittig, ob und in welcher Weise für virusfreie Räumlichkeiten gesorgt werden soll.

Zudem darf es im kommenden Schuljahr keinen „verbockten Schulstart“ geben (um einen Begriff von Christian Lindner aufzugreifen), vor dem auch Lehrer warnen und sich fürchten. Das Recht auf Bildung, das Kindern und Jugendlichen in der Pandemie infolge unglücklicher oder fragwürdiger Entscheidungen, bisher allerdings eher unbeabsichtigt, vorenthalten wurde, darf nicht fahrlässig oder leichtsinnig verletzt oder gar missachtet werden. Vorsorge ist also Pflicht!

Das Corona-Virus hat bisher auch in Deutschland Millionen Kranke und Zehntausende Tote hervorgebracht. Aber es hat die Bildungslandschaft nicht in Trümmer gelegt. Lehrer, Eltern und Schüler haben das in gemeinsamer Kraftanstrengung verhindert. Doch das System hat längst nicht in allen Teilen den Härtetest bestanden. Es ist angeschlagen. Es wurden Schwachstellen geortet, die unbedingt beseitigt werden müssen. Das duldet keinen Aufschub. Dennoch braucht es Zeit: Bedenkzeit nämlich, um klug zu handeln, und Umsetzungszeit. Trotz nahezu täglicher Kassandra-Rufe gibt es zur Panik (noch) keinen Anlass. Kluge Entscheidungen sind gefragt.

Da kommt die kleine Schrift von Klaus Zierer: „Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern“ gerade richtig; denn sie enthält eine Fülle von Fragen und Anregungen, aus denen kenntlich wird, welcher Aufgaben sich die Akteure in der Bildungspolitik dringend annehmen müssen.

Das Büchlein hat den Vorteil, wohltuend konstruktiv zu sein. Zierer macht selbst Vorschläge, mit denen sich die Auseinandersetzung lohnt und von denen manches von der Politik und dem pädagogischen Personal aufgegriffen werden sollte. Ohne die Defizite auszublenden, enthält er sich übertriebener Anklagen, die man in vielen journalistischen Kommentaren lesen kann, die von Vorwürfen an „die Politik“, namentlich die in den Ministerien verantwortlichen Gesundheits- und Bildungspolitiker, nur so strotzen und in Glossen und Blogs das „fatale Corona-Missmanagement“ brandmarken, das sich nicht wiederholen dürfe. Aber er macht nachvollziehbar deutlich, dass eine sehenden Auges durch Untätigkeit in Kauf genommene Fortsetzung der durch die Pandemie ausgelösten Misere sich zu einem veritablen Schaden auswachsen würde, der dann allerdings nicht mehr entschuldbar wäre.

Zierers Buch hat als weiteren Vorzug, dass der Autor seine Vorschläge präzise und gut gegliedert vorträgt. Dadurch bieten sie eine gute Basis zu gründlicher Auseinandersetzung. Es wird ersichtlich, dass es sowohl hinsichtlich des Unterrichtsstoffes wie auch der Bildungsidee, organisatorisch wie normativ Diskussions- und Entscheidungsbedarf gibt.

Man erkennt zudem, was nach Meinung des Autors kurzfristig geschehen sollte, um bei einer erneuten Verschärfung der Corona-Situation routinierter reagieren zu können und Defizite zu vermeiden. Es gelte auch, Defizite aufzuholen. Damit unterstützt er Aktionen, die mancherorts angelaufen sind, wie zum Beispiel Nachhilfeprogramme zur Behebung spezieller Lernhindernisse. Ein besonderes Anliegen ist ihm, dafür zu sorgen, dass benachteiligte Kinder nicht durch das Pandemiegeschehen und durch unterlassene Unterstützung noch stärker benachteiligt oder gar völlig abgehängt werden. Dass die Pandemie ihnen besonders zugesetzt hat, lässt sich empirisch belegen.

An manchen Stellen des Buches erkennt man an kleinen Flüchtigkeitsfehlern, dass wohl eine schnelle Veröffentlichung angestrebt wurde. Auch das ist verständlich, wenn es als Vorlage für rechtzeitiges Handeln der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung und als notwendiger Appell gedacht ist. Der Augsburger Pädagoge mahnt zügiges Handeln an. Vieles von dem, was er anmahnt, besonders wenn es sich um allgemeine Bildungsziele handelt, dürfte überwiegender Zustimmung gewiss sein: Schulleben sollte Freude machen, Unterricht müsse mehr sein als bloße Wissensvermittlung, zum Schülerleben gehöre die Erfahrung von Gemeinschaft. Viele Forderungen sind weder für Politiker noch die Lehrerschaft neu. Aber es ist dennoch gut, sie einmal mehr aufzulisten; denn sie unterstreichen eine wichtige Erkenntnis aus der Pandemiezeit, dass nämlich Präsenz und persönliches Miteinander wesentlich zum Lern- und Bildungserfolg beitragen.  

Problematisch erscheint Zierers Forderung nach Bildungsräten, die offensichtlich die Landesregierungen und die Bundesregierung beraten sollen. Das könnten gemäß ihrer vorgeschlagenen Zusammensetzung sehr große Gremien werden. Sie könnten allenfalls langfristig zu Ergebnissen kommen. Aber: So klug die Mitglieder solcher Gremien auch immer sein mögen, die Qualität der Bildungseinrichtungen hängt von der Qualität der Lehrpersonen ab. Die setzen um, was sie gelernt und durchdacht haben. Sie handeln nach moralischen und ethischen Maximen, die sie reflektiert haben. Jedenfalls sollte es so sein. Wie in allen Berufen gibt es zwar auch bei Lehrern fähige und weniger fähige Akteure. Kein Kollegium besteht nur aus hochgebildeten Könnern und voll engagierten Kümmerern. Es wird immer Abstufungen geben, und die Vielfalt der Charaktere und ihr Zusammenwirken in Schule und Unterricht bescheren den Schülern Erfahrungen (gute und nicht nur gute), denen sie im Leben immer wieder begegnen.

Es wäre ein Glücksfall, wenn die Corona-Lage zu Schuljahrbeginn so günstig wäre, dass Präsenzunterricht problemlos durchgeführt werden könnte. Lernen dürfen, miteinander und im Wettbewerb, zielgerichtet, unter Anleitung, an geeignetem Ort und ohne sachfremde Ablenkung, wäre vergleichsweise eine Wohltat und ist ja grundsätzlich eine ideale Voraussetzung für den Erwerb von Wissen und Gemeinschaftssinn. Das wurde in der Pandemie vermisst. Die Pandemie hat den Wert des Präsenzunterrichts regelrecht offenbart.

Wir wissen: Nicht jede Unterrichtsstunde ist eine pädagogische Meisterleistung. Nicht jede Studienfahrt ist wirklich eine Bildungsreise. Der schulische Alltag ist häufig ganz banal und wird doch geschätzt als Zeit der Begegnung und sinnvoll verbrachte Lebensphase.

Die Schulträger müssen alles daransetzen, dass bei Wiederbeginn des Unterrichts nach den großen Ferien die sächlichen Voraussetzungen geschaffen oder wenigstens erkennbar gediehen sind, damit die Räume sorgenfrei genutzt werden können und modernerer Unterricht in absehbarer Zeit stattfinden und nachhaltig eingeübt werden kann.

Es wäre schön, wenn manches von dem, was Zierer für wichtig hält, wie Klassenfahrten und Schulfeste, wieder stattfinden könnte. Es wären keine Neuigkeiten, sondern Wiederaufnahmen traditioneller, beliebter und wertvoller Schuljahresereignisse.

Es wäre schön, wenn die Besonderheiten der Pandemie das Nachdenken über den richtigen Weg von Erziehung und Bildung verstärkt hätten, so dass auch eine Rückbesinnung auf das Wesen von Erziehung und Bildung stattfände, wodurch wieder besonders der Gedanke in den Blick gerückt würde, dass Lehren nicht nur eine Technik ist, sondern auch Menschenbildung beinhaltet.

Es gab einmal die Zeit, da wurden die Fächer auf ihren Bildungswert abgeklopft. Das könnte auch heute ein Leitfaden für die Auswahl vorgeschriebener und unerlässlicher Unterrichtsinhalte der Einzelfächer sein, wenn man – wie Zierer vorschlägt – eine „Entrümpelung“ der Lehrpläne vornimmt. Es gab eine Zeit, da wurde der angehende Lehrer mit der Verpflichtung zum sogenannten Philosophikum gemahnt, über seine Fächer hinaus zu denken und sich mit allgemeinen Fragen erkenntnistheoretischer, ontologischer oder ethischer Art auseinanderzusetzen. Solche Fragen gehen alle Lehrer – auch ohne „Philosophikum“ – an, gerade in Zeiten wie diesen, vor dem Hintergrund der Globalisierung, zu der auch die Globalisierung von Problemen gehört; denn diese berühren unmittelbar seinen beruflichen Alltag, jeden Tag. Man denke an die Migration, die Kriege in der Welt, das Elend in unterentwickelten Ländern, an Gefährdungen vielfältiger Art, beispielsweise die Umweltverschmutzung und -zerstörung oder – die Pandemie!

Man sollte mit der „Entrümpelung“ der Lehrpläne allerdings nicht über das Ziel hinausschießen und auf jeden Fall auf einer soliden fachlichen und dem Schulziel angemessenen Grundausbildung bestehen. Ohne solides Wissen und grundlegende Kenntnisse werden auch andere Erziehungs- und Bildungsziele verfehlt. Freude sollte sich an der Erkenntnis entzünden und am Erfolgserlebnis.

Zierer sieht eine „Bildungskatastrophe“ nahen, wenn nicht zügig gehandelt wird. Er ruft sich – mit einem ausdrücklichen Rückblick in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – sozusagen zum „Picht II“ aus, der Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Herold einer Bildungskatastrophe auftrat. Das mag übertrieben sein, und Zierer sagt selbst, er wolle nicht in Alarmismus verfallen. Aber seine Bestandsaufnahme ist ernst zu nehmen. Die Situation ist es auch.

Sein Buch gibt wichtige Denkanstöße. Man könnte es als Handbuch zur Gewinnung von Fortbildungsthemen bezeichnen.

Winfried Holzapfel

 

Klaus Zierer, Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern. Herder – Verlag, Freiburg-Basel-Wien, 2021, 128 S., ISBN 978-3-451-07228-4, 12,00 Euro (auch als E-Book erhältlich)